Sind die jungen Leute unpolitisch?

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Ausgehend von einem WhatsApp-Chat am 120. Todestages von Georg Elser tauschen zwei Lehrkräfte ihre Gedanken aus. Ausgehend von der Frage eines Kollegen an die Kollegin entwickelte sich ein Schreibgespräch.

“Liebe Ilona, da fällt es mir ja gerade auch ein und ich dachte, du wärst die richtige Person nachzufragen. Was ist denn deind Meinung vom Standing der neuen Lehrer:innen-Generation? Ich hatte es mit meinem Kumpel Achim beim letzten Mal im Podcast und seither mit diversen Menschen zu dieser Frage. Ich erlebe die jungen Leute zwischen 20 und 30 Jahren als dermaßen unpolitisch, oft ohne öffentliche eigene Meinung und Standing. Bei uns in der Lehrerkonferenz äußert sich das ja durch Nicken oder dafür stimmen, weil es einfach jemand vorgeschlagen hat. Ist das nur mein Eindruck oder teilst du ihn? Oder siehst du das anders?”

Ilona: Also erst einmal würde ich das Thema losgelöst vom Lehrerinnen-Beruf sehen. Mir scheint eine weniger offensiv politische Haltung schon eine gesellschaftliche Tendenz bei der Generation “15-roundabout 40”. Manchmal erscheint es mir sogar so, dass die Tendenz sich politisch weder zu positionieren noch eigenes Handeln davon abzuleiten auch Ü40 zunehmend betrifft.

Tom: Fällt dir das auch so krass auf? Es ist ja auch beim überwiegenden Teil der Schüler:innen so (GMS BW). Eine Sattheit, ein so voll sein von Konsum, da muss man sich gar nicht engagieren. Ist es eine Folge der siebzig Jahre Frieden und immerwährendem Wachstum, dass diese Generation so derart unwissend und untätig ist? Und du hast recht, diese Beobachtung bezieht sich auf den Großteil der Gesellschaft – also nicht nur die Schule, beziehungsweise das Bildungswesen. 

Ilona: Frieden und immerwährendes Wachstum mag ein Grund sein. Allerdings haben wir das seit fast 70 Jahren gehabt. Die Tendenz ist aber jünger. Den Konsum und die Sattheit gab es auch schon in den 80ern. Allerdings hatte diese- so meine Beobachtung- nicht die positive Bedeutung. Ein Lebensstil geprägt von Äußerlichkeiten (Mode, Statussymbole…) war in meiner Jugend eher verpöhnt. 
Ich erinnere mich grinsend an die Diskussionen auf den Eingangsstufen meines ehemaligen Gymnasiums, als beim Abschlussphoto eine Anarchie-Fahne nicht mit aufs Bild durfte, und dann heftigst debattiert wurde, ob dann ein Benetton-Sack auch weg muss….Sich zu interessieren und auch zu engagieren war in aller Sattheit ein Muss. Und zwar aus innerem Antrieb.Es kann also nicht allein der materielle Wohlstand und die Sicherheit sein, welche die jüngere Generation unpolitisch macht. Provokante Idee: Mangelnder Austausch, weniger Gespräche, Rückzug ins Private, Vereinzelung als Grund?

Tom: Die jungen Menschen aber sind doch nicht einsam, das glaube ich nicht. Die Kommunikation hat sich verändert, das stimmt. Sie hat sich erweitert ins Digitale. Aber wenn wir aktuelle Jugendbewegungen wie die Fridays for future oder Letzte Generation anschauen, dann stimmt unsere These ja nicht ganz. Es ist dann vielmehr so, dass wohl die Schere auseinander geht. Kann es sein, dass unpolitisch Sein mit dem Bildungsgrad zu tun haben kann? Obwohl das auch wieder schwierig ist, weil ich auch junge Erwachsene kenne, die durchaus als gebildet beschrieben werden können, aber schlicht keine eigene Haltung haben oder sie zumindest nicht zeigen. Ist es vielleicht vielmehr so, dass viele in Distanz zum politischen System gehen, weil es sie nicht erreicht?

Ilona:hmmm…. Einsam sind se bestimmt nicht, aber (Achtung Tom… Digitalfeindin …) von mir würdest du nicht hören, dass sich Kommunikation ins Digitale erweitert hat. Sie hat sich durch die Digitalisierung verändert, aber nicht erweitert.
Bsp wir zwei: in einem direkten Gespräch wären wir beide schneller “gezwungen” uns zu positionieren, dem Gegenüber zuzuhören und direkt auf ihn einzugehen. Digitaler Austausch ist etwas anderes als persönlicher. Rückzug ist möglich und die emotionale Komponente zu erleben, wie meine Äußerung auf mein Gegenüber wirkt, fehlt. Das macht für manche Menschen den Austausch weniger interessant und gewinnbringend. Was ich sage, denke, von mir gebe geht gefühlt eher ins Leere… kann sein, dass es jungen Menschen auch so geht?
Aktuelle Jugendbwegungen…. da bin ich dann schon bei dir, dass es vll auch was mit Bildung zu tun hat. Wenn ich mich daran zurück erinnere, wie unsere SuS sich zur Demo begeben haben: die alte Frau musste ihnen erklären um was es geht- nebenbei nachdem ich wie Miss Sophie täglich den Müll im Klassenzimmer umsortiert und den 9ern mal wieder in Geo die Funktionsweise der Ozonschicht samt Auswirkungen von CO2 und ihrem persönlcihen Verhalten erklärt hab. Da war nix gedanklich durchdrungen, diskutiert, abgewogen, verglichen.
Ob das politische System Jugendliche nicht erreicht, darüber muss ich erst nachdenken…

Tom: Ich kann deine Gedanken zur digitalen Kommunikation nachvollziehen, möchte aber kurz auf die positiven Aspekte hinweisen. Antworten, die niedergeschrieben werden, werden wesentlich mehr durchdacht, eben weil sie niedergeschrieben werden. Es erfolgt also im Prinzip eine doppelte Auseinandersetzung mit der Frage und ich kann sie im Nachhinein auch noch ändern, wenn ich einen Fehler bemerke. 
Zur Jugend: Vielleicht ist es aber auch so, dass wir es aus der warte älterer Menschen falsch wahrnehmen. So führt zum Beispiel die Vodafone Stiftung aus, dass 64% der 14- bis 24-Jährigen an politischen Themen interessiert sind. Aber auch hier wird der Zusammenhang zwischen politischen Interesse und Bildung hergestellt. Waren wir vielleicht auch einfach in unserer Jugend in einer sogenannten Bubble unterwegs?

Jeder zweite Jugendliche1, der das Abitur anstrebt oder erreicht hat, be- zeichnet sich als politisch interessiert. Bei Jugendlichen mit angestrebtem oder erreichtem Hauptschulabschluss trifft dies hingegen nur auf jeden vierten zu. Studierende bezeichnen sich zu 66 % als politisch interessiert, sie sind damit die Gruppe mit dem größten politischen Interesse.

18. Shell Jugendstudie (2019)

Ilona: Ja, das spricht mich sehr an. In unserer Jugend (junger Hüpfer du) waren wir tatsächlich in anderen gesellschaftl. Gruppen unterwegs. Das soll nicht arrogant klingen, aber wenn ich ganz ehrlich nachdenke, wer da politisch interessiert und engagiert war… Blase. Da ich in meiner Wohnumgebung, in Vereinen mit ganz anderen jungen Menschen zu tun hatte als im schulischen Zusammenhang… fällt mir wie Schuppen von den Augen. So dann Thema Bildung und wie ich fest überzeugt bin Thema Sprache als Hindernis. Meiner schulischen Kundschaft muss ich Zeitungsartikel und sogar Nachrichtensendungen regelrecht übersetzen. Was ich sprachliche nicht verstehe, das kann ich inhaltlich nicht verstehen und die Hürden sind hoch. Vll deshalb auch die Einstellung vieler Jugendlichen von “denen da oben und wir ganz unten”. Was du mit nicht erreichen gemeint hast. Die Pädagogin sucht nach Auswegen…

Tom: Bei Sprache als Hindernis bin ich sofort dabei, auch die Sozialisation spielt natürlich eine große Rolle. Obwohl auch ein politisches Elternhaus nicht automatisch politische und aktive Menschen hervorbringt. Was ist also für Jugendliche die Antwort? Mehr poltische Bildung. Dafür braucht es mehr Zeit und Personal, welches diese Themen stemmen möchte. Und da schließt sich der Kreis zu den jungen Erwachsenen, die nichts ändern möchten und einfach nur ihren Job machen. Also brauchen wir mehr politische Bildung für Jugendliche und junge Erwachsene. Oder?

Auf dem Land sind 58 Prozent der Jugendlichen der Auffassung, dass es kein ausreichendes jugendgerechtes politisches Bildungsangebot gibt (Stadt: 52 %).

Jugend im Ländlichen Raum Baden-Württembergs „Aufwachsen – Mitgestalten – Leben“, 2022

Ilona: Jawoll! Stimme dir zu 100% zu. Es reicht nicht, bei den Jugendlichen zu beginnen. Die Frage wird sein, wie junge Erwachsene erreicht werden können. Wer hat Zugang zu ihnen? Am Arbeitsplatz, bei der Freizeitgestaltung? Hier sehe ich auch die erzieherische Verantwortung der Vereine (siehe Landesverfassung)
Was mir extrem wichtig erscheint ist die politische Bildung bei Lehrerinnen und Lehrern. Die Tatsache, dass wir den verbindlichen “Leitfaden Demokratiebidung” brauchen sagt schon viel. Vielleicht frag ich mal frech an einem päd. Tag, wer sich das Ding schon mal angeschaut hat.

Tom: Das wäre eine famose Idee! Ist es dann nicht die Aufgabe des Arbeitgebers, beziehungsweise des Dienstvorgesetzten? Ich finde es sehr gut, dass es den Leitfaden Demokratiebildung gibt. Dann muss es aber auch an den Schulen Unterstützung dafür geben, wenn Lehrer:innen îhn einsetzen sollen/müssen/dürfen. Die Erziehung zur demokratischen Teilhabe begründet sich unter Anderem in Michael Fullans 21st Century skills mit der Komeptenz “Citizenship”, frei übersetzt “Weltbürger” oder schlicht die Fähigkeit an einer demokratischen Gesellschaft teilhaben zu können. Im Demokratieleitfaden steht, dass er die Demokratiebildung als Aufgabe und Mehrwert für alle Beteiligten und alle Fächer in der Schule betrachtet. Das muss dann in einem System, in welchem einzelne Lehrkräfte den dritten Bildungsplan in Folge aussitzen,  dann aber auch gefördert und gefordert werden, es ist eine Führungsaufgabe. Und da wären wir dann wieder bei den jungen Lehrkräften.

Ilona: Förderung/Umsetzungshilfen/Fortbildungen alles gibts und gabs zum Thema. Das Problem ist die Tasache, dass Bildungspläne häufig ignoriert werden. Wie du schon sagtest… aussitzen. Und diesmal Achtung keine Schelte an die jungen Kolleginnen und Kollegen. Diese kennen den 2016 aus Studium und Referendariat. Da ist die Bereitschaft jeder einzelnen Lehrkraft gefordert, das eigene Tun ständig zu reflektieren und sich der eigenen Pflichten bewusst zu sein. Ich glaube nicht, dass bei verantwortungsbewussten Lehrerinnen und Lehrern Dienstvorgesetzte einfodern und kontrollieren müssen. Die Umsetzung des Bildungsplanes mit seinen Ergänzungen sollte jeder/m als Dienstpflicht klar sein. Sind doch nicht umsonst Beamte. Der Demokratie und unserer Verfassung verpflichtete Beamtinnen und Beamte. (Ich schreibe das mit Inbrunst. Mein Berufsbild)

Tom: Der Leitfaden wurde 2019 veröffentlicht, die davor kennen, wenn dann, die Vorfassung. Aber der Beamtenstatus ist doch nicht die Garantie für die Umsetzung des Leitfadens. Wie auch die Aufarbeitung der Geschehnisse im Kapitol, der Putschversuch durch Trump und seine Vasallen, zeigt, sind Demokratien nichts selbstverständliches. Und Dienstvorgesetzte sind Vorbilder, sie sind wie Lehrer:innen für Schüler:innen, Vorbilder, auch in demokratischen Belangen. Demokratie wird für selbstverständlich gehalten und wenig gelebt. Gelebte Demokratie mit Klassenrat, Schulvollversammlungen und konkreten Unterrichtsumsetzungen muss von den Schulleitungen angestoßen und verfolgt werden, die Lehrer:innen müssen eine Kultur der Mitwirkung erleben und erfahren können. Dann gelingt es auch die (noch) unbeweglichen jungen Erwachsenen ins Boot zu holen. 

Ilona: Vielleicht schließe ich da zu sehr von mir auf andere… Ist es nicht die Grundhaltung, die den Lehrer/die Lehrerin macht? Wird jemand “Pauker” ohne sich seiner politischen und pädagogischen Aufgabe bewusst zu sein? Ich denke gerade an das volle “Ehrenzimmer” (unser Lehrerzimmer wurde umbenannt) am Ende jeden Tages der Schulstadt zurück. Alle heiß auf Austausch und das Ringen um Demokratiebildung. Ich glaube die Grundhaltung ist schon da- bei vielen. Dann fängt die politische Verantwortung da an, wo ich als Kollegin darauf hinweise und eben nicht erwarte, dass die Obrigkeit an meiner Stelle einfordert. Nix Obrigkeitsgläubigkeit sondern “Ich bin Teil des Volkes/ der Demokratie in diesem Staat”. Austausch und konsequentes Vorleben in den Familien, Bildungseinrichtungen, Vereinen, Jugendzentren, Religionsgemeinschaften, Altenheimen…

Kinder und Jugendliche brauchen ein Wertesystem, in dem sie sich orientieren können. Schule ist dafür verantwortlich, ihnen eines zu vermitteln, das den freiheitlichen und demokratischen Grund- und Menschenrechten entspricht. Die Grundrechte des Grundgesetzes sind nicht nur Abwehrrechte des Bürgers gegen staatliche Willkür. In den Grundrechtsbestimmungen verkörpern sie nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch eine objektive Wertordnung. Die Menschenwürde ist die wichtigste Werteentscheidung des Grundgesetzes. Sie kommt allen Menschen allein schon kraft ihres Menschseins zu und ist unantastbar. Somit ist auch Schule kein wertneutraler Ort. Das pädagogische Handeln in Schulen ist von demokratischen Werten und Haltungen getragen, die sich aus den Grundrechten des Grundgesetzes und aus den Menschenrechten ableiten lassen.

Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule, KMK 2018

Links:

Leitfaden Demokratiebildung: https://km-bw.de/Schule/Demokratiebildung

Jugend will bewegen, Vodafone Stiftung: https://www.vodafone-stiftung.de/wp-content/uploads/2020/06/Vodafone-Stiftung-Deutschland_Studie_Jugend-will-bewegen.pdf

18. Shell-Jugendstudie

Jugend im Ländlichen Raum Baden-Württembergs „Aufwachsen – Mitgestalten – Leben“, 2022

Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule, KMK 2018

Bild: Pixabay-Lizenz

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